Ich weiß, was sich in ihr befindet: Schallplatten. Genauer gesagt: Schallplatten aus dem Keller meiner Eltern. Ehemals: unberührbare Schmuckstücke. Heute: konservierte Stimmen toter Menschen.
Athen (ADN). Mikis Theodorakis ist freigekämpft! Der griechische Patriot und weltbekannte Komponist mußte am Sonnabendabend von der Justiz der Athener Militärjunta aus dem Averoff-Gefängnis entlassen werden.
Langspielplatten aus Polen und der DDR. Wohl sowas wie das Gefühl der freien Welt, damals. Eingequetscht neben anderen seltsam anmutenden Tonträgern, die weit davon entfernt sind, als Yeah-Yeah-Musik und wie das alles heißt zu gelten. Singles mit Ouvertüren klassischer Opern und hanebüchener Unterhaltungsmusik der Sechziger. Zurecht vergessene Versuche, etwas draußen zu halten, was von Innen kommt.
Damit haben die weltumfassenden Solidaritätsbewegung für den Patrioten und der Kampf fortschrittlicher Kräfte Griechenlands einen großen Erfolg errungen.
Niemals haben wir uns gemeinsam deine Platten angehört, Vater. Ich wusste, dass du Deep Purple mochtest, aber an die kam man damals nicht ran. Nach der Wende, als es alles gab, als alles wenigstens möglich schien, hatte ich dir den Soundtrack zum Film "Die Reifeprüfung" zum Geburtstag besorgt. Simon and Garfunkel. Wenn ich das Geräusch nachahmen müsste, welches dein Herz in Momenten unbeachteter Leichtigkeit gemacht hat, wäre es das "Dup Di Dup Dup Dup" aus "Mrs. Robinson". Du hast die Platte niemals aufgelegt. Von da an habe ich dir nie wieder etwas geschenkt.
Mikis Theodorakis hat über fünf Monate im Gefängnis zubringen müssen. Dabei hat die Gesundheit des 24jährigen ernsthaft gelitten.
Fand "Die Reifeprüfung" natürlich in der Kiste wieder und befreite sie aus der Nachbarschaft von Mutters Schlagerfuzzis. Dabei fiel mir eine kleine Platte in die Hände: Mikis Theodorakis - Varka sto yalo (Schiff am Strand) und Zurba (Sirtaki). Auf der Rückseite der Hülle entdeckte ich einen Zeitungssausschnitt vom 28. Januar 1968, der Mikis' Entlassung aus dem Knast bejubelt.
Mikrorillenplatten nur mit staubfreiem Mikrosaphir abspielen. Einstellung 45.
Jemand (Du?) hatte offenbar die Idee, dass das gut auf genau diese Platte passt. Wieder ein großer Sieg des kleinen Arbeiter- und Bauernstaates über den Faschismus hat sich damals vielleicht jemand (Du?) gedacht, die Schere präzise am Lauf der Buchstaben ausrichtend, den Pinsel aus den Leimfass ziehend, die holzpapierne Hülle gegen den Schnipsel pressend, während mit 45 Umdrehungen Dieter Resch mit seiner Trickgitarre schneller, immer schneller das Lied des Mannes spielt, der zu spät zum Bahnhof kommt und daher immer flinker werden muss. (Diesen Gag gab Mutter immer zum Besten.)
Zwischen dem Zeitungsartikel und "Dup Di Dup Dup Dup" liegen auf den Tag genau zwanzig Jahre. Wieviele Mauern haben dir den Mut auf diesem Weg genommen? Wann hast du Dich, hast du uns aufgegeben? Leider errang ich nie einen großen Erfolg, wahrscheinlich fehlte mir einfach die fortschrittliche Kraft eines echten Griechen. So warst du lebenslang in diesem deinem Gefängnis, Gefangener, Besucher und Wärter zugleich, immer darauf bedacht, die Tür zu deiner Zelle selbst zu verschließen, von innen, von außen, sicher ist sicher. Kein Monte Christo nirgends, der neben dir Wache hält und immer noch einen Trick auf Lager hat, bevor alles den Bach runter geht. Was sind da schon fünf Monate außer lächerlich.
Morgen ist wieder ein erstes Mal. Weihnachten ohne euch. There is no great big ending. No sunset in the sky.